Titel
Venice as the Polity of Mercy. Guilds, Confraternities, and the Social Order, c. 1250–c. 1650


Autor(en)
Mackenney, Richard
Erschienen
Anzahl Seiten
XVIII, 471 S.
Preis
$ 90.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Israel, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Der Verfasser untersucht mit seiner umfangreichen Monographie unter der Überschrift „Gemeinwesen der Barmherzigkeit“ die bruderschaftliche Gruppenkultur im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Venedig. Er knüpft damit an die wegweisende Studie Rich and Poor in Renaissance Venice. The Social Institutions of a Renaissance State, to 1620 seines Lehrers Brian Pullan von 1971 an, dem die vorliegende Arbeit denn auch gewidmet ist.1 Der heute an der Binghamton University im Staat New York lehrende Autor verfügt über eine umfassende Kenntnis der komplizierten Sozialstruktur der Stadt in der Vormoderne, handeln doch schon die Druckfassung seiner Cambridger Dissertation von 1987 sowie weitere Untersuchungen von Kaufleutegilden desselben Untersuchungszeitraums.2

Die darüberhinausgehenden Interessen des Renaissance-Historikers an Kunstgeschichte und Literatur werden durch eine Vielzahl von schwarz-weiß-Abbildungen bruderschaftlicher Auftragswerke belegt, insbesondere von den im Stadtbild auch heute noch omnipräsenten Reliefs mit Schutzmantelmadonna und Gemälden in Kirchen und Bruderschaftshäusern. Der Band enthält ferner zahlreiche als Motto eingefügte Shakespeare-Zitate aus „The Merchant of Venice“, die teils in die Interpretationen der jeweiligen Kapitel mit einbezogen werden.

Von der Literaturwissenschaft entlehnt ist des Weiteren das 1988 von Stephen Greenblatt entwickelte und eingangs angeführte theoretische Konzept der „Circulation of Social Energy“: Es wird jedoch hier nicht weiter ausgeführt oder in seiner besonderen Relevanz für das Verständnis der venezianischen Sozialgeschichte näher begründet (S. 24). In der den gesamten Untersuchungszeitraum abdeckenden Einleitung zu „Economy, Polity, and Religion“ werden zu diesem Ansatz zwar drei aus der Mengenlehre entlehnte Schaubilder geboten, die die Position der drei Kraftfelder in verschiedenen Zeiträumen zueinander und zu „Mercy“ veranschaulichen sollen (S. 12–14), und am Ende des Buches fragt das Resümee nach einer Neujustierung dieser drei für die Arbeit zentral gestellten Felder im 17. Jahrhundert. Dennoch kann der holzschnittartige Ansatz nicht überzeugen, zumal er im Hauptteil kaum einmal aufgegriffen wird.

Mit dem vorliegenden opus magnum will der Verfasser aus der Perspektive der zahllosen religiös geprägten Fraternitäten einen neuen Blick auf die Sozialgeschichte der Lagunen-Metropole in Spätmittelalter und Frühneuzeit werfen und damit eine Erklärung für die lang andauernde scheinbare Stabilität der Kommune finden, die Teil des Mythos von Venedig wurde. Der Band geht von der Beobachtung aus, dass die strikt für den Stadtadel reservierte Führungsposition im Regiment von den ausgeschlossenen Gesellschaftsschichten über die Zeit nicht ernsthaft angefochten wurde. Es wird die These diskutiert, ob dies daran lag, dass deren Vertreter in den scuole eine wiederum für sie reservierte Gestaltungsebene fanden, die sie insbesondere im Hinblick auf ihre Solidarisierungs- und Frömmigkeitsbedürfnisse zufriedenstellte.

Besondere Aufmerksamkeit wird daher den Verschiebungen im scheinbar austarierten Sozialgefüge der Stadt in Zeiten von Epidemien (wie in der Mitte des 14. und am Anfang des 17. Jahrhunderts) sowie von religiösen Auseinandersetzungen (wie zwischen der Mitte des 16. und dem beginnenden 17. Jahrhundert) gewidmet, wo sich besonders deutliche Belege für die dynamische Anpassungsfähigkeit der venezianischen Gesellschaft und ihrer Ordnung finden, die im Kontrast zur vorgeblich zeitlosen Statik stehen, von der der Mythos spricht.

Damit wird gegen ein idealisiertes Bild argumentiert, das maßgeblich von Vorgaben geprägt wurde, wie sie gerade in einer Zeit großer Friktionen im konfessionellen Zeitalter entwickelt wurden. Ihre Verbreitung verdanken sie etwa Gasparo Contarini und seinem 1543 erstmals gedruckten fünfbändigen Werk „De Magistratibus et Republica Venetorum“. In der Sicht des einflussreichen adligen Diplomaten und Kardinals verdankt sich die vermeintliche Stabilität Venedigs in erster Linie einer von der herrschenden Schicht, zu der er ja selbst gehörte, in ihrer Weisheit entworfenen Verfassung. In dieser sind die Fraternitäten ein wesentlicher Teil des Masterplans, angefangen mit den größten religiösen Korporationen, den Scuole Grandi – die tatsächlich aber erst seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts von den Scuole Piccoli unterschieden wurden. Diese hätten als angeblich rein patrizischer Prototyp für die cittadini das Muster abgegeben, auf dessen Grundlage man die kleineren Bruderschaften und Gilden der popolani entwickelte, welche ebenfalls in klarer Hierarchie unter adliger Kontrolle standen.

Hier setzt Mackenney an und will die venezianischen Popolanen rehabilitieren, indem er ihre Korporationen vom 13. bis 18. Jahrhundert untersucht, wobei er „surprising levels of self-determination in their economic and religious life“ aufzeigen kann: „Although the popolani had no role in the governing councils of the commune or the Signoria, within their own institutions and within a greater whole they played a highly significant role in the historical destiny of the polity.“ (S. 7) In sechs chronologisch aufeinanderfolgenden Kapiteln geht die Untersuchung den sich wandelnden Bedingungen und Formen bruderschaftlichen und zünftischen Lebens in Venedig nach, wobei insbesondere eine Neubewertung der Rolle der popolani in den oben genannten Feldern versucht wird, die neben jener der nobili und cittadini bislang zu wenig beachtet worden sei.

Der vor allem aus der Bruderschaftsüberlieferung (Verzeichnis der benutzten Archivalien, S. 407–423) erarbeiteten Untersuchung gelingt es, die unterschiedlichen Korporationstypen seit ihren Formierungsphasen überzeugend zu charakterisieren: die arti (Zünfte, seit 1219), die scuole (religiöse Bruderschaften, seit 1247), die Battuti (Flagellantenbruderschaften, seit 1260), die Scuole di Corpus Domini, respektive del Venerabile (Eucharistiebruderschaften, seit 1395, respektive 1502), die Bianchi (Büßerbruderschaft, seit 1399), die Scuole del Rosario (Rosenkranzbruderschaften, wohl seit 1480), die sovvegni (zünftische Solidargemeinschaften, seit den 1540er-Jahren) sowie die suffragi (Totenbruderschaften, seit 1630 im Gefolge einer schlimmen Pestwelle).

Zu allen Erscheinungsformen gibt es nützliche Tabellen, die über Gründungsdaten und Ansiedlung der Konfraternitäten in bestimmten Kirchen und Vierteln aufklären. Es wird auch der wichtigen Rolle von Bettelorden bei ihrer Institutionalisierung nachgegangen, äußeren Einflussfaktoren bei der Gründung (wie den seit Mitte des 14. Jahrhundert regelmäßig auftretenden Pestepidemien) sowie herkunftsmäßigen (etwa Mitglieder, die aus Lucca oder Florenz stammten), ethnischen (etwa Mitglieder, die sich als Armenier oder als Deutsche betrachteten) und religiösen Spezifika (etwa griechisch-orthodoxe oder auch jüdische Mitglieder, die aber keine scuole im herkömmlichen Sinne bilden konnten).

Die Mitgliederzahl der Fraternitäten konnte beträchtlich sein, um 1400 versuchte der Rat der Zehn die Geißlerbruderschaften auf 550 bis 600 Mitglieder zu begrenzen, doch schon 1446 zählte beispielsweise die Scuola della Misericordia 850 Mitglieder, wozu noch 60 Novizen kamen. Während die devotionalen Gemeinschaften grundsätzlich für beide Geschlechter offen waren, gab es ab dem 14. Jahrhundert vereinzelt auch nur für Frauen oder nur für Männer reservierte scuole.

Mit der exemplarischen Betrachtung der scuola der häufig aus der Lombardei immigrierten Schlosser (fabbri) und der scuola der Kurzwarenhändler (merciai), die im Italienischen die Misericordia (mercé) schon im Namen trägt, wird dabei überdies dem topographischen Niederschlag von zwei prominenten Gewerben und ihren Institutionen sowie deren Konkurrenzen um knappen Stadtraum nachgegangen (um die Calle dei Fabbri, respektive die Mercerie, S. 126–188).

Überzeugend wird die integrierende und pazifizierende Funktion von religiös konnotierten Fraternitäten im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Venedig dargestellt. Insgesamt will die umfassende Studie zum venezianischen Bruderschaftswesen aber zu viel, indem sie nicht nur versucht, den Kosmos der Hunderten von scuole über bald 500 Jahre zu verfolgen, sondern auch noch die ihnen zu verdankende Kunst zu berücksichtigen, was im vorliegenden Rahmen aber nicht zu leisten ist. Die Auswahl der Dutzenden von Kunstwerken kann für eine Stadt wie Venedig nur willkürlich sein, ihre Besprechung nur oberflächlich bleiben.

Anmerkungen:
1 Brian S. Pullan, Rich and poor in Renaissance Venice. The social institutions of a Catholic state, to 1620, Cambridge, Mass. 1971.
2 Richard Mackenney, Tradesmen and traders. The world of the guilds in Venice and Europe, c. 1250–c. 1650, London 1987 [zugl.: Cambridge, Diss., 1982].